Das Museum bei der Kaiserpfalz hat eine neue Mobile-App entwickelt, mit der Nutzer in die Welt der Antike eintauchen können. Im Mittelpunkt der digitalen Anwendung stehen drei lebensgroße römische Statuen, die ursprünglich zu einem monumentalen, farbig gefassten Grabmal gehört haben. Dieses Grabmonument wird als digitale Rekonstruktion in die römische Siedlungslandschaft des 1. Jahrhunderts n. Chr. eingebettet und kann mit einem 360°-Panorama als Augmented Reality („erweiterte Realität“) erstaunlich realitätsgetreu nachempfunden werden kann.
Im Jahr 1853 findet ein Bauer bei der Feldarbeit in der Nähe von Ingelheim am Rhein die drei aus lothringischem Kalkstein gefertigten Statuen. Zwei sind fast vollständig erhalten, die dritte ein Torso aus Kopf und Oberkörper. Der Finder verkauft die Objekte an Albertus Gerrit de Roock, einen niederländischen Kaufmann, der als Freibeuter und Zuckerproduzent auf Java ein riesiges Vermögen angehäuft und sich in Ingelheim niedergelassen hatte. De Roock wiederum schenkt die Statuen bald darauf dem Verein für Nassauische Altertumskunde in Wiesbaden.
Bis in das Jahr 2021 verbleiben sie auf der anderen Rheinseite in der dortigen Sammlung. Im Ingelheimer Museum bei der Kaiserpfalz stehen stattdessen lange Zeit nur Kopien der „ältesten bekannten Ingelheimer“. Im Laufe der Jahrzehnte werden die Statuen mehrmals wissenschaftlich untersucht. Ferdinand Kutsch erkennt bereits 1930 ihre herausragende Qualität, als er sie mit Skulpturen von der römischen Gräberstraße im nahen Mainz-Weisenau vergleicht. Er stellt fest, dass die Ingelheimer Figuren „eine gewisse vornehme Haltung" aufweisen und ihre Köpfe „von innen heraus“ leben: „Hier pocht es unter der Haut und ist seelische Spannung im Gesicht, (es) lebt noch etwas Vergeistigung im griechischen Sinne, und das gerade hebt sie heraus.“ Die Archäologin Walburg Boppert schließt sich diesem Urteil 2005 an, als sie im Rahmen ihrer Untersuchung der Weisenauer Gräberstraße „die Ingelheimer Grabfiguren als die geglücktesten Werke“ bezeichnet. Auch hinsichtlich der Datierung ist sich die Fachwelt einig: die Statuen müssen zur Zeit des Kaisers Claudius, also etwa um 50 n. Chr., angefertigt worden sein. Vergleiche mit anderen Grabsteinen der Region aus dieser Zeit, etwa mit dem des Schiffers Blussus und seiner Frau Menimane, legen sogar nahe, dass die Ingelheimer Figuren in derselben Werkstatt gefertigt wurden (sog. Blussus-Annaius-Werkstatt).
In Ingelheim selbst standen die Grabfiguren lange Zeit im Schatten der Pfalz Karls des Großen. Durch die Rückkehr der Originale nach Ingelheim und ihre digitale Rekonstruktion als Teil eines bis zu 15 Meter hohen Monuments in seinem ursprünglichen Kontext können die antiken Kunstwerke nun wieder dort bewundert werden, wo sie schon vor rund 2000 Jahren so manchen Reisenden auf der römischen Fernstraße beeindruckt haben dürften.
Die mit Mitteln des bundesweiten Verbundprojekts museum4punkt0 entwickelte App bietet viele Hintergrundinformationen über die Entstehungszeit des Grabmals sowie Details zu dessen wissenschaftlicher Rekonstruktion. Eine Besonderheit sind etwa die Reste der einstigen Bemalung, die an zwei Figuren noch mit bloßem Auge zu erkennen sind. Nur dank dieses seltenen Glücksfalls der Archäologie war es möglich, auch die Farbigkeit der Figuren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu rekonstruieren.
Die Statuen veranschaulichen darüber hinaus den etwas abstrakten Prozess der Romanisierung, also die allmähliche Anpassung der einheimischen Bevölkerung an die Sitten und Gebräuche der Römer. Gräber mit figürlichen Darstellungen der Verstorbenen waren der ansässigen keltischen Kultur fremd, die Sitte kam erst mit den Eroberern aus Italien an den Rhein. Kleidung und Schmuck der beiden weiblichen Grabstatuen sind noch überwiegend von der Tracht der einheimischen Bevölkerung geprägt. Vermutlich stammten sie also aus der Region, womöglich sogar aus dem heutigen Rheinhessen. Beide Frauenfiguren tragen aber auch eine Palla, das typische lange Obergewand römischer Frauen. Diese Mischtracht markiert gewissermaßen den Übergang von der ehemals keltischen zu einer gallo-römischen Gesellschaft. Die männliche Statue hingegen, der sogenannte Togatus, erscheint durch und durch „römisch“. Er trägt die namensgebende Toga, mit der er sich als Bürger des Imperium Romanum präsentiert. Insgesamt sind die römischen Grabfiguren aus Ingelheim eine Momentaufnahme in einem Prozess, der viele Jahrzehnte andauerte.
Die App „Ingelheim zur Römerzeit“ ist für IoS und Android verfügbar. Sie kann über QR-Codes (IoS und Android) auf einer Infotafel heruntergeladen werden. Die Infotafel in Gestalt der männlichen Grabfigur wird an einem stark frequentierten Radweg platziert – unmittelbar dort, wo vor rund 2000 Jahren das Grabmal gestanden haben muss. Highlight der Anwendung ist ein spektakuläres 360°-Panorama im Stil einer Augmented Reality. Weiterführende Informationen können über verschiedene Medien wie Texte, Audios und ein Video abgerufen werden.
Die Infotafel steht am Wirtschaftsweg entlang des Münzengrabens nördlich der A 60 an der Auffahrt zur Autobahnbrücke. Den Google-Maps-Link finden Sie hier
Museum bei der Kaiserpfalz
François-Lachenal-Platz 5
55218 Ingelheim am Rhein
Tel: 06132 714701Museum bei der Kaiserpfalz
François-Lachenal-Platz 5
55218 Ingelheim am Rhein
Tel: 06132 714701